Wie Living Income und Living Wage als Menschenrecht flächendeckend umsetzen?

Symbolbild Living Wages und Living Incomes

Foto: Nipah Dennis/Fairtrade

Autorin
Maja Volland
Politische Referentin, Forum Fairer Handel

Für existenzsichernde Löhne und Einkommen braucht es umfassende Strategien. Probleme wie ungleiche Machtverteilung und Preise dürfen nicht ausgeklammert werden.

Armut, Mangelernährung, schlechte Arbeitsbedingungen und Kinderarbeit – die vielfältigen Probleme, welche durch ein unzureichendes Einkommen, insbesondere in vielen globalen Agrar- aber auch in anderen Lieferketten auftreten, sind seit langem bekannt. Das Konzept eines Living Income bzw. Wage (deutsch: existenzsichernde Einkommen und Löhne) gewinnt bei der Lösung dieser Probleme in zunehmenden Maß an Bedeutung. So gibt es zahlreiche Projekte und Initiativen von NGOs, Unternehmen und Regierungen, welche die Förderung von Living Income und Wage zum Ziel haben.

Was bedeutet "Living Wage" und "Living Income"?

Unter einem existenzsichernden Lohn (Living Wage) wird die Entlohnung einer*s Arbeiters*in an einem bestimmten Ort für eine Standard-Arbeitswoche verstanden, die dafür ausreicht, der*m Arbeiter*in und seiner*ihrem Haushalt einen menschenwürdigen Lebensstandard zu ermöglichen. Elemente eines angemessenen Lebensstandards sind Ernährung, Wasser, Wohnen, Ausbildung/Schule, Gesundheitsvorsorge, Transport, Kleidung sowie andere essenzielle Bedürfnisse inklusive einer Reserve für unerwartete Ereignisse.

Ein existenzsicherndes Einkommen (Living Income) bezieht sich auf die Einkommen von Menschen, die nicht primär abhängig beschäftigt sind, z. B. Kleinbäuer*innen, die ihr Einkommen (vorrangig) durch den Verkauf von (Agrar-)Produkten verdienen. Living Income folgt der gleichen Logik wie Living Wages in Bezug auf die Befriedigung der oben erwähnten Grundbedürfnisse, geht aber einen Schritt weiter. Zum Lohn bzw. dem Produkterlös werden noch eventuelle andere Einkommen hinzugerechnet
(z.B. Pacht, Einkommen aus Nebentätigkeiten, etc.). Zur Erläuterung des Konzeptes von Living Incomes und Wages, siehe die Broschüre des FFH Living Incomes und Wages im Fairen Handel“).

Wichtige Bausteine fehlen in vielen Initiativen zur Förderung von Living Income

Diese Entwicklung ist positiv, doch unterscheidet sich das Engagement je nach Akteur und Sektor stark. So ergab etwa eine Untersuchung von elf Kaffeeunternehmen im Jahr 2020, dass keines von ihnen Living Income als Ziel in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie genannt hat. Auch wird die Frage, wie Living Income und Wage erreicht werden sollen, von vielen Akteuren unterschiedlich beantwortet. Viele Projekte zur Förderung von Living Income setzen vornehmlich auf technische Lösungen, um die Einkommen von Produzent*innen zu erhöhen. So gibt es etwa im Kakaosektor etliche Projekte zur Steigerung der Qualität und Produktivität im Kakaoanbau, zur Diversifizierung der Einkommen von Kakakobäuer*innen oder zur Verbesserung der Infrastruktur in den Anbauländern. Dies sind alles wichtige Bausteine, um Einkommen von Kakaobäuer*innen zu erhöhen, doch sie reichen – ebenso wie bei anderen Produkten – nicht aus.

Der Preis als wichtiger Faktor für Living Income

Die Einkommenslücke vieler Kakaobäuer*innen zu einem Living Income ist zu groß, als dass sie mit rein technischen Lösungen geschlossen werden kann und bei vielen anderen Kleinbäuer*innen und -produzent*innen dürfte die Situation ähnlich sein. Nach Berechnungen der Living Income Community of Practice aus den Jahren 2018/19, liegen die monatlichen Einkommen von Kakaobäuer*innen in der Elfenbeinküste und Ghana – den Hauptanbauländern des weltweiten Kakaos – um mehr als die Hälfte unterhalb eines Living Income.

Ein wichtiger Baustein zur Förderung von Living Income ist deshalb der Preis, den Produzent*innen am Anfang vieler Lieferketten für ihre Produkte erhalten. Dieser ist in vielen Fällen sehr niedrig und deckt häufig noch nicht einmal die Produktionskosten. So ist der Weltmarktpreis für Kakao zwischen 2016 und 2017 um 40 % gefallen und seitdem nie wieder auf das vorherige Niveau gestiegen. Im Kaffeesektor ist der Weltmarkpreis für Arabica Bohnen zwischen 2016 und 2020 um 30 % gesunken, während gleichzeitig die Produktionskosten für kolumbianische Kaffeeproduzent*innen gestiegen sind.  Ähnliches gilt für andere Produkte – und auch Landwirt*innen im Globalen Norden sind mit nicht-kostendeckenden Preisen für ihre Produkte konfrontiert. So sind etwa die Milchpreise, die Milchbäuer*innen in Deutschland erhalten, nicht kostendeckend. Viele Milchbäuer*innen mussten deshalb ihre Höfe aufgeben; so gab es seit 2015 eine Abnahme der Milchviehbetriebe in Deutschland um rund 13.000 bzw. etwa ein Fünftel.

Einkaufende Unternehmen übernehmen kaum Verantwortung

Zwar sind kostendeckende Preise nicht die alleinige Lösung zur Förderung von Living Income, allerdings ist klar, dass ohne diese Produzent*innen auf Dauer nicht ihre Produktion fortführen, geschweige denn ein Living Income verdienen können. Doch Unternehmen, welche diese Produkte kaufen, übernehmen bisher kaum Verantwortung. Im Kakaobereich etwa zahlen die meisten Kakao- und Schokoladenunternehmen nicht mehr als die von den Regierungen in Ghana und der Elfbeinküste vorgegebenen Preise und versuchen sogar diese Mehrausgaben noch zu umgehen. Auch in anderen Sektoren, wie bspw. bei Kaffee, sind Unternehmen häufig nicht bereit, höhere Preise als nötig zu bezahlen. Diese Tatsache wird auch sehr eindrücklich durch den Rückgang von Fairtrade-zertifiziertem Kakao belegt, der erfolgte, nachdem Fairtrade 2019 seinen Mindestpreis für Kakao angehoben hatte. Eine Umfrage der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ergab, dass 75 % von einkaufenden Unternehmen noch nicht einmal bereit sind, ihre Preise an gesetzliche Erhöhungen von Mindestlöhnen in den Lieferantenländern anzupassen.

Machtmissbrauch führt zu Kostendruck und niedrigen Preisen

Dies legt ein weiteres Problem offen, das bei Strategien zur Förderung von Living Income häufig ignoriert wird: Auch wenn einige einkaufende Unternehmen Projekte zur Förderung von Living Income durchführen, die höhere Preisen umfassen, sind dies in der Regel einzelne Projekte mit Leuchtturmcharakter. Jenseits davon ändern sie ihre Einkaufspraktiken nicht und versuchen möglichst niedrige Preise auszuhandeln und Kosten nach unten in der Lieferkette abzuwälzen. Dies ist möglich, da in vielen globalen Lieferketten ein extremes Machtungleichgewicht herrscht. Am Ende vieler Lieferketten konzentrieren sich einige wenige Unternehmen, denen häufig Millionen (Klein-)Produzent*innen gegenüberstehen. Durch ihre Vormachtstellung können die Unternehmen Liefer- und Markteintrittskonditionen sowie Preise diktieren. Sie können Verantwortung und Kosten für nachhaltige Produktionen und höhere Standards einfach nach unten abgeben ohne höhere Preise zahlen zu müssen.

Es braucht umfassende Strategien, in denen Preise und Marktmacht nicht fehlen dürfen

Klar ist, dass Lösungen zur Erzielung von Living Income komplex sind (siehe „Living Incomes und Wages im Fairen Handel“). Sie müssen sowohl sektor- wie auch lokalspezifische Gegebenheiten berücksichtigen. Technische Aspekte wie eine Optimierung von Anbaumethoden, Diversifizierung von Einkommen oder Verbesserung der Infrastruktur in den Anbauländern sind dabei wichtige Punkte. Allerdings kann eine Living Income-Strategie nur wirksam sein, wenn sie die Frage der zu geringen Preise für Erzeuger*innen und Machtkonstellationen in Märkten, welche Kostenverteilung und Preise erheblich beeinflussen, berücksichtigen. Damit Unternehmen entgegen der preislichen Wettbewerbslogik ihre Einkaufspraktiken ändern und Menschenrechte inklusive Living Income und Wage in ihren Lieferketten durchsetzen, braucht es verpflichtende Regulierungen.

Unsere Forderungen an die Bundesregierung

Laut Koalitionsvertrag möchte die neue Bundesregierung sich für existenzsichernde Löhne weltweit einsetzen. Dies ist erfreulich und mit Blick darauf, dass die Mindestlöhne in vielen Ländern keine Existenzgrenze sichern, ein wichtiger und überfälliger Schritt zur Umsetzung des Menschenrechts auf eine angemessene Entlohnung. Doch nicht nur Arbeiter*innen, welche einen Lohn ausgezahlt bekommen, sondern auch Produzent*innen und Kleinbäuer*innen, die selbstständig und nicht angestellt ihr Einkommen erwirtschaften, haben ein Recht auf ein existenzsicherndes Auskommen. Die zukünftige Bundesregierung sollte sich entsprechend sowohl für existenzsichernde Löhne wie auch existenzsichernde Einkommen weltweit einsetzen.

Dafür sollte sie unter anderem folgende Maßnahmen umsetzen:

  • Regierungen der Produzent*innenländer unterstützen, etwa in Form von sektorspezifischen Abkommen, die umfassende Strategien zur Förderung von Living Income beinhalten;
  • mit Blick auf Kohärenz überprüfen, ob ihre Politik auf nationaler und EU-Ebene dem Menschenrecht auf ein Living Income entgegensteht, etwa beim Abschluss von Handelsverträgen oder auch der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union;
  • in all ihren Initiativen zur Förderung nachhaltiger Produktion, wie etwa dem Forum Nachhaltiger Kakao, umfassende Strategien zur Förderung von Living Income aufstellen und deren Einhaltung zur Voraussetzung für eine Teilnahme machen. Um Diskussionen über Preise auch zwischen Unternehmen zu ermöglichen, sollte sie das Wettbewerbsrecht entsprechend anpassen.
  • sich für ein ambitioniertes Lieferkettengesetz auf EU-Ebene und auch im Rahmen der Vereinten Nationen auf globaler Ebene (UN-Treaty-Prozess) einsetzen und darin Living Income und Wage als Menschenrecht verankern.
  • die Schutzlücken im Gesetz zum Verbot von unfairen Handelspraktiken schnellstmöglich schließen und – wie in Spanien bereits der Fall – ein Verbot des Einkaufs unterhalb von Produktionskosten schnellstmöglich prüfen und durchsetzen. Hierbei ist es wichtig, dass Produktionskosten die Zahlung von Living Wages umfassen und Produzent*innen den Verdienst eines Living Income ermöglichen. Um eine gerechtere Verteilung der Wertschöpfung zu erreichen, sollten im Rahmen der Umsetzung des Gesetzes Informationen über Margen innerhalb der Lebensmittellieferketten erhoben werden.

Living Income und Living Wage als erster wichtiger Schritt

Existenzsichernde Löhne und Einkommen sind ein Menschenrecht. Mit Blick darauf, dass sie lediglich eine Existenzgrenze sichern, dürfen sie nur als Anfangspunkt betrachtet werden und nicht zur Debatte stehen. Sie sind zudem Voraussetzung für die Umsetzung weiterer Menschenrechte und Umweltstandards. Nur wenn Bäuer*innen und Produzent*innen über ein ausreichendes Einkommen verfügen, können sie Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen in ihrem Anbau bzw. ihrer Produktion umsetzen, ihren Angestellten existenzsichernde Löhne zahlen und für gute Arbeitsbedingungen sorgen. Living Income und Wage sind die Voraussetzung für drängende soziale und ökologische Fragen und auch für die wirksame Umsetzung von Initiativen, wie etwa dem kürzlich vom Bundestag beschlossenen Lieferkettengesetz. Alle Akteure in globalen Lieferketten müssen in diesem Sinne Verantwortung übernehmen und umfassende Strategien zur Förderung von Living Income und Wage entwickeln, um das Menschenrecht auf ein existenzsicherndes Einkommen für alle Akteure in globalen Lieferketten zu erfüllen.

Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags in der Hintergrundbroschüre des Forum Fairer Handel „Living Incomes und Wages im Fairen Handel“.

Publikationen Forum Fairer Handel
Publikationen zum Thema
Broschüre Living Incomes und Living Wages im Fairen Handel
Forum Fairer Handel (2021):

Living Incomes und Living Wages im Fairen Handel

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