Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. (...) Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.
Existenzsichernde Einkommen und Löhne
Living Incomes und Living Wages sind ein Menschenrecht
Viele Menschen, insbesondere im Globalen Süden, erhalten ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. Die Mehrheit von ihnen lebt in ländlichen Gebieten und ist in der Landwirtschaft tätig. Und obwohl diese Kleinbäuer*innen teilweise für Märkte produzieren, in denen Milliarden erwirtschaftet werden (z.B. in der Kakao-Industrie), können sie von ihren Einnahmen häufig ihre Existenz nicht sichern.
Wir fordern: Existenzsichernde Einkommen und Löhne (englisch: Living Incomes und Living Wages) sind ein Menschenrecht und müssen weltweit gefördert werden!
Obwohl existenzsichernde Einkommen und Löhne ein Menschenrecht sind, hat die entwicklungspolitische Debatte darüber erst in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen. Anders als andere Armutsindikatoren, wie etwa die Definition der Weltbank zur Armutsgrenze (weniger als $2,15 pro Tag bedeutet extreme Armut), können existenzsichernde Einkommen und Löhne nicht global in einer einzelnen Zahl erfasst werden, sondern müssen für den jeweiligen Kontext lokal berechnet werden.
Existenzsichernde Löhne und Einkommen – wo ist der Unterschied?
Sind Menschen abhängig beschäftigt und verdienen ihr Geld also z.B. als Arbeiter*innen in einer Fabrik, erhalten sie einen Lohn. Entsprechend trifft auf sie das Konzept eines existenzsichernden Lohnes zu, der wie folgt definiert ist:
Ein existenzsichernder Lohn ist "das Entgelt, das ein/e Arbeitnehmer*in für eine normale Arbeitswoche an einem bestimmten Ort erhält und das ausreicht, um dem/der Arbeitnehmer*in und seiner/ihrer Familie einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. Zu einem angemessenen Lebensstandard gehören Nahrung, Wasser, Wohnung, Bildung, Gesundheitsfürsorge, Transport, Kleidung und andere wesentliche Bedürfnisse, einschließlich der Vorsorge für unerwartete Ereignisse."
Quelle: Global Living Wage Coalition, übersetzt durch Forum Fairer Handel
Sind Menschen nicht abhängig beschäftigt, sondern verdienen ihr Einkommen z.B. durch den Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten, wie beispielsweise Kaffee, so trifft auf sie der Ansatz des existenzsichernden Einkommens zu. Leider verdienen die meisten Kleinbäuer*innen in landwirtschaftlichen Wertschöpfungsketten kein existenzsicherndes Einkommen mit ihren Produkten, wodurch sie häufig nicht in der Lage sind, ihren angestellten Arbeitskräften einen existenzsichernden Lohn zu zahlen.
Ein existenzsicherndes Einkommen ist das "Nettojahreseinkommen eines Haushalts, das unter menschenwürdigen Arbeitsbedingungen an einem bestimmten Ort verdient wird, […] und ausreicht, um allen Mitgliedern des Haushaltes einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. Aspekte, die bei der Berechnung eines existenzsichernden Einkommens einbezogen werden sind: Nahrung, Wasser, Wohnen, Bildung, Gesundheitsversorgung, Transport, Kleidung und andere wesentliche Bedürfnisse, einschließlich Vorkehrungen für unerwartete Ereignisse."
Quelle: Initiative für Nachhaltige Agrarlieferketten
Wie berechnet man existenzsichernde Einkommen und Löhne?
Zur Berechnung und Umsetzung von existenzsichernden Löhnen wurden in der Vergangenheit verschiedene Methoden entwickelt. Relevant sind für den Fairen Handel insbesondere zwei Methoden:
Die Anker-Methode ist heutzutage der meistverbreitete Ansatz zur Berechnung von existenzsichernden Löhnen. Akteure verschiedener freiwilliger Nachhaltigkeitsinitiativen in der „Global Living Wage Coalition“ (GLWC) – darunter Fairtrade International – nutzen diesen Ansatz.
Auch die World Fair Trade Organization (WFTO) hat zum Thema "Existenzsichernde Einkommen und Löhne" bereits 2013 eine Arbeitsgruppe gegründet und seitdem eine Strategie zur Berechnung und Zahlung existenzsichernder Löhne entwickelt: die so genannte WFTO-Methode.
Mittlerweile wurden beide Ansätze erweitert, um auch existenzsichernde Einkommen berechnen zu können. Hier ist insbesondere die Living Income Community of Practice (LICOP) federführend, die auf Basis der Anker-Methode arbeitet.
Um zu berechnen, wie viel eine Person für ein menschenwürdiges Leben benötigt, werden auf lokaler Ebene verschiedene Komponenten (siehe Grafik unten) herangezogen, die dann den sogenannten Referenzwert (engl. Benchmark) eines existenzsichernden Einkommens bilden. Auch wenn sich die verschiedenen Ansätze zur Berechnung von Living Wages und Incomes z.B. im Bereich Datenerhebung unterscheiden, nutzen sie ähnliche Komponenten zur Berechnung.
Alle in der Grafik gezeigten Bestandteile sind notwendig, um den Referenzwert zu berechnen, der den Ausgangspunkt für die Berechnungen zu existenzsichernden Löhnen und Einkommen bildet. In der Praxis bedeutet dies, dass zur Erhebung lokaler Referenzwerte entweder detaillierte Daten auf Ebene der Produzent*innenorganisation erhoben (WFTO-Methode) oder umfangreiche Studien für spezifische Region durchgeführt werden (Anker-Methode).
Dabei ist es wichtig, die Bestandteile des Referenzwertes detailliert an die lokalen Gegebenheiten anzupassen, um die Lebensrealität an einem bestimmten Ort abzubilden. So sollten z.B. bei der Erhebung der Kosten einer angemessenen Ernährung wichtige lokale Ernährungsgewohnheiten beachtet und die Marktpreise vor Ort erhoben werden. Entsprechend unterscheiden sich die Kosten nicht nur von Staat zu Staat, sondern auch häufig zwischen Stadt und Land. Einen Überblick über alle bereits existierenden Benchmarks bietet die Webseite: https://align-tool.com/
Die Berechnung eines existenzsichernden Lohnes
Anhand der lokalen Referenzwerte kann dann ein existenzsichernder Lohn berechnet werden: Werden die Kosten eines menschenwürdigen Lebens (pro Familie) durch die Anzahl erwerbstätiger Menschen in einer Familie geteilt, erhält man den Nettolohn, den ein/e Arbeiter*in verdienen muss, um ihren/seinen Lebensunterhalt zu decken. Im letzten Schritt muss noch die Steuerlast hinzugefügt werden, um zu errechnen, wie viel ein/e Arbeiter*in faktisch verdienen muss, um einen existenzsichernden Lohn zu erhalten.
Die Berechnung eines existenzsichernden Einkommens
Existenzsichernde Einkommen zu berechnen ist ungleich komplizierter als die Berechnung eines existenzsichernden Lohnes. Um herauszufinden, ob Kleinbäuer*innen ein existenzsicherndes Einkommen erwirtschaften, muss zunächst das tatsächliche Einkommen erfasst werden, was sich in der Praxis (auch aufgrund fehlender Daten) oft als schwierig erweist. Menschen, die nicht primär abhängig beschäftigt sind, z.B. Kleinbäuer*innen, bekommen keinen Lohn, sondern verdienen ihr Einkommen (vorrangig) durch den Verkauf von (Agrar-)Produkten. Neben dem landwirtschaftlichen (Export-) Produkt, z.B. Kaffee, werden häufig im Mischanbau weitere Produkte angebaut und auf lokalen Märkten verkauft, z.B. Bananen. Hinzu kommt die Produktion für den Eigenkonsum (Subsistenzwirtschaft), wie z.B. der Anbau von Gemüse oder Tierhaltung. Darüber hinaus arbeiten viele Menschen nicht nur auf ihrer eigenen Farm, sondern verdienen auch als Angestellte auf anderen Höfen Geld und haben noch weitere Einkommensquellen. So kommt es häufig vor, dass ein Familienmitglied in die Stadt oder ins Ausland migriert ist und die Familie mit einem zusätzlichen Einkommen unterstützt.
Wie viel ist genug? Einkommenslücken schließen
Wenn für eine Region Referenzwerte berechnet und die tatsächlichen Einkommen der Menschen erfasst wurden, ergibt sich häufig eine Einkommenslücke, die geschlossen werden muss. So verdienen Kakaobäuer*innen in der Cote d`Ivoire im Median nur ein Einkommen von $1.919 pro Jahr, während sie für sich und ihre Familien min. $7.318 pro Jahr verdienen müssten, um ein existenzsicherndes Einkommen zu erreichen, wie eine Studie von True Price und Fairtrade von 2018 zeigt. Eine solche Lücke zu schließen, ist bei Kleinbäuer*innen jedoch ungleich komplizierter als bei angestellten Arbeiter*innen, bei denen "nur" ein höherer Lohn ausgehandelt werden müsste. Doch auch hier ist oft ein umfassender Wandel nötig, da viele Betriebe im Fall einer Zahlung existenzsichernder Löhne nicht mehr wettbewerbsfähig arbeiten könnten.
Je nach Sektor und Region unterscheiden sich die Gründe dafür, warum Kleinproduzent*innen kein existenzsicherndes Einkommen verdienen. Zu den Gründen zählen z.B. niedrige Weltmarktpreise mit extremen Schwankungen, zu kleine Anbauflächen, eine niedrige Produktivität durch alte Pflanzbestände, ein ineffizienter Einsatz von Düngemitteln oder die geringe Wertschöpfung vor Ort.
Auf der Suche nach Lösungen ist es überaus wichtig, das "große Ganze" im Blick zu haben und potenziell negative Effekte einzelner Maßnahmen mitzudenken. So kann z.B. eine stark erhöhte Produktivität eine globale Überproduktion und damit einen Preisverfall auf dem Weltmarkt zur Folge haben.
Einen guten Überblick über Maßnahmen zur Erreichung von Living Incomes im Kakao-Sektor, wie auch potenzielle nicht-intendierte Konsequenzen, gibt das Cocoa Barometer des Voice Networks (englisch).
Ohne höhere Preise keine existenzsichernden Einkommen und Löhne
Wie können Einkommenslücken geschlossen werden und wer trägt wie viel Verantwortung dafür? Hier unterscheiden sich die Strategien der verschiedenen Akteure deutlich.
Der konventionelle Handel setzt stark darauf, die Produktivität und Effizienz von Kleinbäuer*innen zu verbessern, die Produktion zu diversifizieren sowie auf technische Lösungen. Er ist bereit, tiefgreifende Interventionen vorzunehmen – jedoch meist mit Ausnahme eines höheren Preises für Rohstoffe und Produkte.
Für Fair-Handels-Unternehmen und die Zivilgesellschaft ist aber klar: Ohne angemessene Preise werden existenzsichernde Einkommen häufig nicht zu erreichen sein!
So hat Fairtrade International mit dem Konzept des "Fairtrade Living Income Reference Price" (FLIRP) im Kakaosektor gezeigt, dass existenzsichernde Einkommen ohne höhere Preise für Produzent*innen (in den meisten Fällen) nicht möglich sind.
Wie viel Geld brauche ich für Essen, Kleidung, die eigene Wohnung? Was kostet die Bildung meiner Kinder? Und was muss ich für das Alter zurücklegen? Passt unsere Bezahlung zu dem, was wir leisten? Diesen Fragen gehen Emilia Schüle und Neven Subotić in dieser Webdoku nach.
Existenzsichernde Einkommen und Löhne im Fairen Handel
Zur Erreichung von existenzsichernden Einkommen und Löhnen in den Lieferketten des Fairen Handels muss jeder Akteur einen Teil beitragen. Produzent*innen müssen dabei unterstützt werden, effizienter zu produzieren und Kosten einzusparen. Aber auch Fair-Handels-Unternehmen, die die Ware z.B. in Deutschland verkaufen, müssen in ihren Organisationen Kosten einsparen, um faire Preise an die Produzent*innen zahlen zu können. Genauso sollten Kund*innen (im Rahmen ihrer Möglichkeiten) bereit sein, die Zahlung von Living Incomes und Living Wages zu unterstützen.
Im Fairen Handel dreht sich die Debatte um Living Wages und Living Incomes nicht darum, ob, sondern wann und das wie diese gezahlt werden können. Denn obwohl die Diskussion um Living Incomes und insbesondere um Living Wages schon einige Jahre andauert, stehen viele Akteure erst am Anfang der Living Income-Berechnungen. Dennoch machen erste Pilot-Projekte der Fair-Handels-Unternehmen Mut: Die Berechnungsmethoden funktionieren – und in vielen Fällen, z.B. bei Handwerksproduzent*innen in Indien, Indonesien und Thailand, werden bereits existenzsichernde Löhne gezahlt.
Existenzsichernde Einkommen und Löhne müssen weltweit umgesetzt werden!
Living Incomes und Living Wages sind ein Menschenrecht. Mit Blick darauf, dass sie lediglich eine Existenzgrundlage sichern, dürfen sie nur als Anfangspunkt in der Debatte um bessere Einkommen und Löhne betrachtet werden und nicht zur Debatte stehen. Sie sind zudem die Voraussetzung für die Umsetzung weiterer Menschenrechte und Umweltstandards. Nur wenn Bäuer*innen und Produzent*innen über ein ausreichendes Einkommen verfügen, können sie Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen in ihrem Anbau bzw. ihrer Produktion umsetzen, ihren Angestellten einen existenzsichernden Lohn zahlen und gute Arbeitsbedingungen bereitstellen. Living Incomes und Wages sind die Voraussetzung für drängende soziale und ökologische Fragen und auch für die wirksame Umsetzung von Initiativen, wie etwa dem vom Bundestag beschlossenen Lieferkettengesetz. Alle Akteure in globalen Lieferketten sollten mit hoher Priorität an einer weltweiten Umsetzung von existenzsichernden Einkommen und Löhnen arbeiten.
Zur Förderung von existenzsichernden Einkommen und Löhnen fordern wir derzeit von der Bundesregierung unter anderem:
- ein ambitioniertes EU-Lieferkettengesetz, in welchem existenzsichernde Einkommen und Löhne als Menschenrecht verankert sein müssen.
- ein Verbot Dumpingpreisen, welches Unternehmen untersagt, ihren Lieferanten Preise unterhalb der Produktionskosten aufzuzwingen.
ALIGN Tool: Die Webseite gibt einen Überblick über Living Income Benchmark-Studien und weitere Publikationen zum Themenbereich
Living Income Community of Practice
Fairtrade-Strategie für existenzsichernde Einkommen Download
Mit bitterem Beigeschmack Faire Handelspraktiken und existenzsichernde Einkommen – eine Chance für den Kaffeesektor?