Orientierung im Siegel-Dschungel?

Orientierung im Siegel-Dschungel?
Jonas Lorenz
Autor
Jonas Lorenz
Referent für Grundsatzfragen des Fairen Handels, Forum Fairer Handel

Eine Vielzahl von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (darunter auch das Forum Fairer Handel mit seiner Analyse unterschiedlicher Kontrollsysteme im Fairen Handel) analysiert und beurteilt verschiedene Nachhaltigkeitssiegel.

Die Bundesregierung bietet u.a. mit Siegelklarheit und Kompass Nachhaltigkeit zwei Plattformen mit solchen "Meta-Bewertungen" an. Eine gute Bewertung eines Siegels auf einer der Plattformen gilt gleichsam als Gütesiegel, mit dem gerne geworben wird. Siegelklarheit richtet sich vorrangig an die breite Öffentlichkeit und der Kompass Nachhaltigkeit an Beschaffer*innen. Beide Plattformen analysieren und bewerten freiwillige Nachhaltigkeitsstandards (engl. voluntary sustainability standards = VSS), basierend auf Datensätzen der Standards Map des International Trade Center (ITC) und der gemeinsamen Analysemethodik (Sustainability Standards Comparison Tool = SSCT).

Dieser Blogbeitrag soll dazu beitragen, die Standards Map des ITC und die Plattformen der Bundesregierung hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit und ihres methodischen Ansatzes einschätzen zu können.

Nur für Expert*innen: Die Standards Map des International Trade Centers

2022 hat das Forum Fairer Handel die Standards Map des International Trade Centers (ITC) ausführlich analysiert und eine Zusammenfassung der Analyse veröffentlicht – hier die Ergebnisse in Kürze:

Das ITC ist eine multilaterale Agentur der Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation und stellt über die Standards Map seit 2011 Informationen zu über 300 Nachhaltigkeitsstandards (VSS) anhand von 1.600 Kriterien zur Verfügung. Die Standards Map wurde unter Mithilfe von einigen renommierten Organisationen wie z.B. der International Social and Environmental Accreditation and Labelling Alliance (ISEAL) und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) entwickelt. Nutzer*innen können verschiedene Standards detailliert miteinander vergleichen, tief in verschiedene Dimensionen der Nachhaltigkeit eintauchen und sich die konkreten Formulierungen der einzelnen VSS anschauen. In Umfang und Informationstiefe ist die Standards Map einmalig, allerdings ist die Navigation sehr anspruchsvoll.

Insbesondere Nutzer*innen, die über wenig Vorerfahrung mit VSS-Analysen verfügen, raten wir zu anderen Plattformen (wie etwa Siegelklarheit, siehe Analyse weiter unten), wenn sie sich über Nachhaltigkeitsstandards informieren möchten. Dafür gibt es verschiedene Gründe:

So macht die Website nicht deutlich, wie genau die Standards Map funktioniert, welche Methodik angewandt wird und insbesondere wie die Ergebnisse zu interpretieren sind. Damit ist die Gefahr einer Fehlinterpretation der Ergebnisse sehr hoch. So versteht das ITC die Standards Map explizit nicht als Bewertungsinstanz. Die Analyse gibt lediglich darüber Auskunft, ob es zu einem bestimmten Kriterium entsprechende Anforderungen im untersuchten Standard gibt, aber nicht darüber, wie diese ausgestaltet sind. Die Standards Map bewertet also nicht, ob z.B. Standard A im oben genannten Kriterium hohe Prämien festschreibt, Standard B niedrigere Prämien festschreibt oder Standard C keine Angaben zur Prämienhöhe macht. Auch hinsichtlich der Wichtigkeit einzelner Kriterien im Vergleich zu anderen Kriterien gibt die Standards Map keine Auskunft. Derartige Einschätzungen bleiben den Nutzer*innen überlassen.

In einer stichprobenartigen Detailanalyse des FFH hat sich zudem gezeigt, dass die Vergleichbarkeit einzelner Standards zu individuellen Kriterien limitiert ist und einige Bewertungen nicht nachvollziehbar bzw. inkonsistent waren. Dies liegt unter anderem daran, dass das ITC keine Kreuzvergleiche der Ergebnisse verschiedener Standards bei den gleichen Kriterien durchführt. Es mangelt zudem an umfassenden „Guidance“-Dokumenten zur Einschätzung darüber, ab wann ein Kriterium erfüllt ist. Die Erstellung und transparente Veröffentlichung solcher „Guidance“-Dokumente wird aber empfohlen. Auch eine unabhängige inhaltliche Prüfung der Ergebnisse jenseits der überprüften standardsetzenden Organisationen würde die inhaltliche Qualität und Vergleichbarkeit der Ergebnisse erhöhen.

Fazit: Nur für Expert*innen mit Vorerfahrungen, die Zeit haben, sich im Detail mit den Ergebnissen zu beschäftigen!

Siegelklarheit und Kompass Nachhaltigkeit: Hilfreiche Tools mit großen Lücken

Siegelklarheit und Kompass Nachhaltigkeit richten sich an Verbraucher*innen und Beschaffer*innen und sind deutlich nutzer*innenfreundlicher aufgebaut. Beide Plattformen möchten die Zielgruppen darin unterstützen, Umwelt- und Sozialsiegel besser zu verstehen. Wie bereits erwähnt, basieren beide Plattformen auf Datensätzen der ITC-Standards Map und der Methodik des SSCT (einem von der GIZ entwickelten Methodik-Tool), bereiten die Ergebnisse aber etwas unterschiedlich auf. So bietet der Kompass Nachhaltigkeit Beschaffer*innen z.B. die Möglichkeit, für konkrete Produkte (z.B. T-Shirts) Filter anzuwenden und direkt zu Herstellern zu gelangen, die diese Produkte führen. Siegelklarheit richtet sich dagegen an die breite Öffentlichkeit und verfügt nicht über derartige Filter.

Im Gegensatz zur Standards Map werden die untersuchten Standardsysteme auf beiden Plattformen transparent bewertet.  Nutzer*innen können die Ergebnisse bei Siegelklarheit anhand einer Empfehlung (sehr gute Wahl / gute Wahl) und einem Sterne-Rating einfach ablesen, sich aber auch tiefergehend informieren. Unterteilt sind die Bewertungen in die drei Kategorien Glaubwürdigkeit, Umweltfreundlichkeit und Sozialverträglichkeit. Mit der SSCT-Methodik werden Standards auf Basis von über 300 Kriterien analysiert, die sich in ihrer genauen Zusammensetzung je nach Produktgruppe (z.B. Natursteine) unterscheiden. Unterschieden wird zwischen Mindestkriterien und „normalen“ Kriterien. Um in einer Kategorie drei Sterne zu erhalten, müssen Standards alle Mindestanforderungen und mindestens 60 % der Gesamtpunktzahl erreichen.

Mit den Plattformen Siegelklarheit und Kompass Nachhaltigkeit wird die Bundesregierung ihrer Rolle gerecht, Nachhaltigkeit zu definieren, zu bewerten und Nutzer*innen eine klare Orientierung zu bieten – zumindest in der Theorie. In der konkreten Anwendung zeigen sich jedoch zwei grundlegende Probleme:

Wichtige Produktgruppen Lebensmittel und Textilien werden unzureichend abgebildet

Zum einen haben beide Plattformen ein praktisches Umsetzungsproblem. Für die Plattform Siegelklarheit ist ein Ressortkreis verantwortlich, in dem die Bundesministerien für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), für Arbeit und Soziales (BMAS), für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), der Justiz (BMJ), für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) sowie für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) vertreten sind. Diese Ministerien waren sich in der Vergangenheit nicht immer einig, was die Bewertungsmaßstäbe, z.B. im Lebensmittelsektor, angeht, weshalb eine Einschätzung in diesem wichtigen Bereich bislang nicht möglich ist. Auch die Funktionalität im Bereich Textilien ist derzeit eingeschränkt, denn dort wird noch eine alte Methodik verwendet. Dies wirkt sich auch auf den Kompass Nachhaltigkeit aus, wo in der Produktgruppe Textilien die Filtermöglichkeiten eingeschränkt und Vergleiche zwischen Textil-Siegeln nur schwer möglich sind.

Entsprechend bieten die Plattformen Nutzer*innen in diesen beiden, im Alltag sehr relevanten, Produktgruppen keine bzw. eine nur eingeschränkte Orientierung. Hier wäre es wünschenswert, wenn die deutsche Bundesregierung zeitnah die zentralen Produktgruppen Textilien und Lebensmittel einer einheitlichen Bewertung unterziehen würde und so Nutzer*innen alle Funktionen von Siegelklarheit und Kompass Nachhaltigkeit nutzen könnten.

Fehlende Gewichtung auf die Kriterien des Fairen Handels

Das zweite Problem ist, dass die überarbeitete SSCT-Methodik jenseits von Mindestkriterien keine individuelle Gewichtung der Kriterien mehr vornimmt. (Ein Einblick, wie einzelne Kriterien nach der alten Methodik gewichtet wurden, findet sich in den "Gesamtanforderungen Textil", die auch aktuell noch nach der alten Methodik bewertet werden.) Laut Angaben auf der Website wurde die Gewichtung verändert, um die Komplexität zu reduzieren und damit die Nachvollziehbarkeit für Nutzer*innen zu erhöhen. Obwohl diese Motivation nachvollziehbar ist, birgt sie auch eine gewisse Gefahr: Die Kriterienkataloge der verschiedenen VSS sind mittlerweile sehr umfangreich geworden und decken eine Vielzahl von Bereichen ab. Wächst jedoch die Gesamtzahl an Anforderungen an, die Produzent*innen und Plantagen erfüllen müssen, steigt auch die Gefahr, den Blick auf das Wesentliche zu verlieren.

Aus Sicht des Fairen Handels bedeutet dies, dass Produzent*innen und Arbeiter*innen für ihre Mehrkosten der Erfüllung der Kriterien angemessen kompensiert werden müssen und darüber hinaus bei den Kriterien Handelspraktiken im Mittelpunkt stehen sollten, die die riesigen Machtunterschiede zwischen Produzent*innen/Arbeiter*innen und Einkäufer*innen adressieren und mindestens verringern. Andere VSS haben häufig einen anderen Fokus als der Faire Handel: Für sie stehen Umweltaspekte im Mittelpunkt, während der Faire Handel Mensch und Umwelt zusammen denkt. Das hat zur Folge, dass der Faire Handel insbesondere im Bereich der ökonomischen Standards, zum Beispiel beim Thema "Preis", weitaus strengere Standards hat als viele auf den Plattformen bewertete "Nachhaltigkeitssiegel". Diese fordern von den Produzent*innen zwar häufig strikte Umweltauflagen, kompensieren diese aber nicht durch angemessene Preise.

Zentrale Fair-Handels-Kriterien, wie z.B. ein fairer Preis, Preisprämien, langfristige Handelbeziehungen oder Vorfinanzierung sind bei Siegelklarheit und Kompass Nachhaltigkeit nicht als Mindestkriterien eingestuft oder kommen überhaupt nicht vor. Da darüber hinaus mittels der neuen SSCT-Methodik keine Gewichtung vorgenommen wird, besteht die Gefahr, dass Nachhaltigkeitsstandards, die zwar viele Aspekte abdecken, aber in wichtigen Bereichen (jenseits der Mindestkriterien) Lücken aufweisen, diese mittels der ungewichteten Methodik besser kaschieren können, als dies vorher möglich war.

Bei der Ausarbeitung der Anforderungen für die Produktgruppe Lebensmittel sollten die GIZ und der Ressortkreis darauf achten, zentrale Elemente des Fairen Handels aufzunehmen, um sicherzustellen, dass nur jene VSS als sehr gut bewertet werden, die Produzent*innen angemessen kompensieren und die die Machtasymmetrie zwischen Produzent*innen und Käufer*innen adressieren.

Fazit: Siegelklarheit und Kompass Nachhaltigkeit sind gute und hilfreiche Tools, die auch für Laien geeignet sind, helfen aber in der Praxis derzeit oft nicht weiter, weil die zentralen Produktgruppen Lebensmittel und Textilien nicht, bzw. nur eingeschränkt nutzbar sind. Zudem sind sie für Nutzer*innen, denen die Kriterien des Fairen Handels wichtig sind, nur bedingt hilfreich.

Tipp: Konformität mit den Prinzipien des Fairen Handels besser beim Forum Fairer Handel checken

Sowohl die ITC Standards Map als auch Siegelklarheit und Kompass Nachhaltigkeit sind wichtige Tools, die Verbraucher*innen, Beschaffer*innen und Wirtschaftsunternehmen Einblicke in den Umfang und die Glaubwürdigkeit von VSS bieten. Im Unterschied zu den Analysen des FFH untersuchen sie jedoch eine Vielzahl von Nachhaltigkeits- und Branchenstandards und vergleichen diese miteinander.

Wer eine Orientierung im Bereich der Ansätze und Prinzipien des Fairen Handels sucht, der/dem helfen diese Tools derzeit demnach nur bedingt. Zentrale Aspekte, insbesondere die ökonomische Dimension der Nachhaltigkeit und faire Handelspraktiken, bleiben unbeachtet. Multiplikator*innen, Beschaffer*innen und Verbraucher*innen, die mehr darüber erfahren wollen, wie bestimmte VSS in Bezug auf die Prinzipien des Fairen Handels bewertet werden können, sollten sich derzeit deshalb beim Forum Fairer Handel informieren.

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