Existenzsichernde Löhne sind ein Menschenrecht und kein freiwilliges Extra

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Anlässlich des Tags der Arbeit haben wir mit Wiranta Ginting über existenzsichernde Einkommen in der Bekleidungsindustrie gesprochen. Er ist stellvertretender internationaler Koordinator der Asia Floor Wage Alliance (AFWA). Die AFWA ist eine von asiatischen Gewerkschaften geführte globale Arbeits- und Sozialallianz in den bekleidungsproduzierenden Ländern Asiens sowie in den Konsumregionen der USA und Europas. Die 2007 gegründete AFWA zielt darauf ab, die asiatischen Bekleidungsgewerkschaften zu stärken und zu vereinen, um globale Modemarken gemeinsam zur Verantwortung zu ziehen. Dafür müssen länderspezifische Konflikte in globalen Produktionsnetzwerken überwunden werden.

Das Interview haben wir schriftlich geführt und die Antworten aus dem Englischen übersetzt.

FFH: Die AFWA hat sich zum Ziel gesetzt, das Lohnniveau in der Bekleidungsindustrie für ganz Asien anzuheben und hat ein Berechnungsmodell für einen existenzsichernden Lohn erarbeitet. Das Berechnungsmodell soll auch anderen Produktionsregionen zugänglich gemacht werden, um zu verhindern, dass Markenfirmen nach einer Lohnanpassung ihre Produktion in günstigere Nachbarländer verlagern. Wie würden Sie den aktuellen Stand beschreiben? Konnte die AFWA ihren Zielen nähern kommen? Gibt es Erfolgsgeschichten? 

Wiranta Ginting: Seit ihrer Gründung im Jahr 2007 arbeitet die AFWA daran, die strukturellen Dynamiken zu bekämpfen, die Textilarbeiter*innen in ganz Asien in Armutslöhnen gefangen halten. Unsere Formel für einen existenzsichernden Lohn – der „Asia Floor Wage“ (AFW) – ist die erste grenzüberschreitende Benchmark für existenzsichernde Löhne, die von Arbeiter*innen und Gewerkschaften selbst entwickelt wurde. Der AFW ist bis heute die einzige Lohnformel dieser Art, die explizit auf die Bedürfnisse von Frauen ausgerichtet ist.

Im Laufe der Jahre hat die AFWA erfolgreich das Konzept eines regionalen existenzsichernden Mindestlohns als notwendige Gegenmaßnahme zum „race to the bottom“ in globalen Lieferketten etabliert. Auch wenn eine branchenweite Umsetzung noch nicht vollständig erreicht ist, haben wir bereits bedeutende Fortschritte erzielt. Wir haben die öffentliche Debatte beeinflusst, nationale Mindestlohnkampagnen mitgestaltet und das Thema existenzsichernde Löhne auf die globale politische Agenda gesetzt. Der AFW-Benchmark hat zudem die Grenzen freiwilliger Unternehmensinitiativen aufgezeigt, die oft keine substanziellen Lohnerhöhungen bewirken.

Die Arbeit von AFWA hat auch globale Rahmenwerke beeinflusst. 2025 veröffentlichte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) eine Methodik zur Ermittlung der Bedürfnisse von Arbeiter*innen und ihren Familien und setzte dabei 2.950 Kilokalorien pro Tag als Referenzwert für eine angemessene Ernährung bei der Berechnung von existenzsichernden Löhnen fest. Dieser Wert liegt sehr nahe an dem von AFWA seit Langem verwendeten Standard von 3.000 Kilokalorien pro Tag, wie im Bericht Towards a Woman-Centred Living Wage Beyond Borders (AFWA, 2023) dargestellt. Der minimale Unterschied von nur 50 Kilokalorien zeigt die starke Übereinstimmung zwischen AFWAs von Arbeiter*innen angeleiteter Methodik und internationalen Standards und unterstreicht die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit des AFWA-Ansatzes.

Im Jahr 2024 traf der Verwaltungsrat der ILO eine historische Entscheidung und erklärte existenzsichernde Löhne zum institutionellen Mandat. Die Ergebnisse der Expert*innentagung zu Lohnpolitik betonten, dass existenzsichernde Löhne entscheidend sind, um einen menschenwürdigen Lebensstandard zu sichern, Armut und Ungleichheit zu reduzieren und soziale Gerechtigkeit zu fördern. Dieser Durchbruch ist das Ergebnis jahrelanger globaler Lobbyarbeit, zu der AFWA seit 2007 konsequent und maßgeblich beigetragen hat. Die Entscheidung markiert einen grundlegenden Wandel im internationalen Kontext und signalisiert eine wachsende Einigkeit darüber, dass existenzsichernde Löhne keine bloßen Idealvorstellungen, sondern durchsetzbare Rechte sind, die in globalen Lieferketten geachtet werden müssen.

Ein weiterer bedeutender Erfolg ist die Veränderung des Diskurses über Verantwortung und die Rolle der AFWA darin. Durch konsequente Advocacyarbeit haben wir dazu beigetragen, das Prinzip zu etablieren, dass globale Markenunternehmen – und nicht nur Zulieferer oder die Regierungen der Produktionsländer – finanziell verantwortlich für existenzsichernde Löhne sind. Diese Veränderung spiegelt sich zunehmend in entstehenden Regulierungen zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten und Kampagnen zur Verantwortung von Markenfirmen wider, darunter Initiativen wie WageForward, die verbindliche Verpflichtungen von Modemarken zur Schließung der Lohnlücke in globalen Lieferketten fordern.

Das AFW-Modell hat auch außerhalb Asiens Wirkung entfaltet. Arbeiter*innenorganisationen in der Bekleidungsindustrie in Europa haben sich direkt auf unsere Methodik bezogen und einen Europe Floor Wage entwickelt. Das zeigt die wachsende Dynamik für ein weltweit abgestimmtes Lohnniveau, das verhindert, dass Markenunternehmen Produktionsstandorte wechseln, um billigere Arbeitskräfte auszunutzen.

Heute wird der Asia Floor Wage international als glaubwürdiger und legitimer Standard zur Bewertung von Lohnlücken anerkannt. Er findet Anwendung bei Gewerkschaften, Forschenden, zivilgesellschaftlichen Organisationen und zunehmend auch bei einigen Markenunternehmen zur Ermittlung der Differenz zwischen tatsächlichen Löhnen und existenzsichernden Bedürfnissen.

Auch wenn die Umsetzung existenzsichernder Löhne für alle Textilarbeiter*innen noch andauert, hat die grenzüberschreitende Strategie von AFWA wichtige Grundlagen für regionale Solidarität, Unternehmensverantwortung und weltweit durchsetzbare Lohnstandards geschaffen – und uns einer Welt nähergebracht, in der wirtschaftliche Rechte von Arbeiter*innen grenzüberschreitend geschützt werden.

FFH: Einige Länder der Europäischen Union (wie Deutschland) sowie die EU selbst haben Gesetze zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschenrechte verabschiedet, in denen auch angemessene Löhne (in Deutschland) bzw. existenzsichernde Löhne (auf EU-Ebene) als Menschenrecht genannt werden. Haben diese Regelungen bereits Veränderungen bewirkt?

Wiranta Ginting: Die Einführung von menschenrechtlichen Sorgfaltspflichtgesetzen durch die EU und Länder wie Deutschland ist ein wichtiger und ermutigender Schritt, um Menschenrechte – insbesondere das Recht auf einen existenzsichernden Lohn – in der rechtlichen Struktur globaler Lieferketten zu verankern. Es zeigt, dass menschenwürdige Arbeit und faire Löhne nicht optional, sondern grundlegende Rechte sind, die durch verbindliche Verpflichtungen geschützt werden müssen.

Diese Regelungen haben neue Wege für Unternehmensverantwortung eröffnet, die Erwartungen an Transparenz erhöht und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie Gewerkschaften wertvolle Instrumente an die Hand gegeben, um Unternehmen und Regierungen stärker unter Druck zu setzen. Dass existenzsichernde Löhne explizit in solchen Regelungen genannt werden, stellt einen Durchbruch im globalen Politikfeld dar.

Gleichzeitig befinden sich diese Regelwerke noch in einem frühen Umsetzungsstadium und müssen weiterentwickelt werden, um ihr transformatives Potenzial zu entfalten. Ein zentrales Problem ist, dass die aktuellen Regelungen die Machtverhältnisse nicht grundlegend zugunsten von Arbeiter*innen verändern: Gewerkschaften und Arbeitsrechtsorganisationen – besonders im Globalen Süden – stoßen oft auf große Hürden beim Zugang zu Beschwerdemechanismen oder bei dem Versuch, Markenunternehmen für unfaire Einkaufspolitiken und Lohndrückerei zur Verantwortung zu ziehen. Häufig behalten die Unternehmen selbst die Kontrolle über die Definition und Bewertung ihrer „Compliance“, wodurch die Möglichkeiten von Arbeiter*innen, Rechtsmittel einzulegen oder die Ergebnisse zu beeinflussen, eingeschränkt werden.

Damit diese Gesetze echte Wirkung entfalten, müssen sie über prozedurale Audits und Berichts-Checklisten hinausgehen. Sie müssen verbindliche und durchsetzbare Pflichten enthalten – etwa die Verpflichtung von Markenunternehmen, existenzsichernde Löhne entlang ihrer Lieferketten zu garantieren – und die Überwachung und Durchsetzung durch die Arbeiter*innen einschließen. Nur durch eine Umverteilung von Macht und die Stärkung der Rolle von Arbeiter*innenorganisationen können diese Gesetze ihr Versprechen auf Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde für Arbeiter*innen weltweit einlösen.

FFH: Häufig ist das Problem, dass Markenunternehmen aus der EU gegenüber Zulieferfirmen unlautere Einkaufspraktiken anwenden und damit einen hohen Kostendruck in der Lieferkette aufbauen. Sie sind häufig nicht bereit, höhere Preise zu zahlen, selbst wenn bspw. die Mindestlöhne im Produktionsland steigen. Dies gefährdet auch die Umsetzung von Lieferkettengesetzen. Was bräuchte es, um dieser Preispolitik von Unternehmen einen Riegel vorzuschieben?

Wiranta Ginting: Unfaire Einkaufspolitiken stehen im Zentrum der systematischen Ausbeutung durch globale Bekleidungslieferketten. Markenfirmen diktieren häufig Preise, Produktionsvolumen und Lieferfristen, ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Tragfähigkeit der Zulieferer – geschweige denn auf die Rechte und den Lebensunterhalt der Arbeiter*innen. Wenn etwa Mindestlöhne oder gesetzliche Kosten steigen, verweigern sie oftmals eine Preisanpassung und zwingen die Zulieferer, die zusätzlichen Kosten zu tragen. Dadurch wird ein Kreislauf aus Lohnunterdrückung, Verdrängung in informelle Arbeit und Verletzung der Arbeitsrechte in Gang gesetzt. 

AFWAs Bericht Money Heist (2021) zeigte auf, wie diese ausbeuterischen Praktiken während der COVID-19-Pandemie eskalierten – mit massiven Lohnraub und einer humanitären Krise für Millionen Textilarbeiter*innen. Die Krise offenbarte die Fragilität von Zulieferverträgen und die dringende Notwendigkeit verbindlicher Unternehmensverantwortung.

Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, sind aus unserer Sicht drei zentrale Veränderungen notwendig:

1. Gesetzlich bindende gemeinsame Arbeitgeberverantwortung:
Wie im juristischen Briefing der AFWA Joint Employer Liability (2021) dargelegt, müssen Markenunternehmen rechtlich als gemeinsame Arbeitgeber zusammen mit den Zulieferern angesehen werden. Da sie faktisch Kontrolle über Produktions- und Arbeitsbedingungen ausüben, müssen sie auch juristisch für Arbeitsrechtsverletzungen in ihrer Lieferkette haften – nicht nur soziale Verantwortung übernehmen. Gesetze zur gemeinsamen Haftung auch von Markenunternehmen sind entscheidend, um die Risiken nicht länger auf die Arbeiter*innen abzuwälzen. So wurde beispielsweise im Oktober 2024 ein bahnbrechender gerichtlicher Vergleich mit dem in Bangalore ansässigen Zulieferer SAPL Industries erzielt, der das Unternehmen zur Zahlung ausstehender Löhne verpflichtet, die während des Corona-Lockdowns im Jahr 2021 317 Beschäftigten unrechtmäßig vorenthalten wurden. Diese bedeutende außergerichtliche Einigung war das Ergebnis eines dreijährigen juristischen Kampfes um die Feststellung der gemeinsamen Arbeitgeberhaftung, der von der AFWA zusammen mit einer lokalen Gewerkschaft vor dem Arbeitsgericht von Bangalore geführt wurde.

2. Faire Preisgestaltung und transparente Kostenanpassung:
Einkaufsverträge müssen verpflichtende Klauseln enthalten, die Preise automatisch anpassen, wenn Mindestlöhne oder die Inflation steigen oder Sozialstandards eingeführt werden. Zulieferer müssen Arbeitsstandards einhalten können, ohne dafür finanziell bestraft zu werden. Andernfalls werden faire Mindestlöhne in der Praxis nicht zu erreichen sein.

3. Rechtsverbindliche Vereinbarungen mit Markenunternehmen unter der Leitung von Arbeiter*innen
Statt auf freiwillige Verhaltenskodizes zu setzen, braucht es rechtsverbindliche Vereinbarungen zwischen Modemarken, Zulieferern und Arbeiter*innenorganisationen. Beispiele dafür sind das Dindigul Agreement (2022) und das Central Java Agreement (2024).

Die Schaffung fairer Einkaufspraktiken und existenzsichernder Löhne ist außerdem eng mit dem Abbau geschlechtsspezifischer Ungleichheiten in Lieferketten verbunden. Arbeiterinnen müssen im Zentrum jedes neuen Wirtschaftsmodells stehen, das die derzeit ausbeuterische Praxis der Markenunternehmen ersetzen soll.

Diese Missstände lassen sich nicht durch freiwillige Selbstverpflichtungen beheben. Es braucht eine systematische Machtverschiebung durch verbindliche Gesetze, eine von den Arbeitnehmer*innen geleitete Durchsetzung, faire Preisstrukturen und Vereinbarungen mit Markenfirmen, die das Risiko, die Wertschöpfung und das Mitspracherecht zugunsten derjenigen umverteilen, die den Reichtum der globalen Mode produzieren.

FFH: Was sind Ihre Forderungen an politische Entscheidungsträger*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen in der Europäischen Union hinsichtlich globaler Arbeitsrechte?

Wiranta Ginting: An politische Entscheidungsträger*innen in der EU richten wir folgende Forderungen:

  • Existenzsichernde Löhne gesetzlich verankern: Existenzsichernde Löhne müssen als einklagbare Verpflichtung gelten – nicht nur als idealistisches Ziel. Markenfirmen müssen gesetzlich verpflichtet werden, in ihren Lieferketten existenzsichernde Löhne zu garantieren – mit messbaren, zeitgebundenen Zielen.
  • Rechtliche Verantwortung der Markenfirmen durch gemeinsame Arbeitgeberhaftung: Markenfirmen müssen rechtlich als gemeinsame Arbeitgeber mit den Zulieferern anerkannt werden, da sie maßgeblich Löhne, Arbeitsbedingungen und -rechte mitbestimmen. Rechtliche Regelungen müssen diese Realität der globalen Wertschöpfungsketten abbilden.
  • Faire Einkaufspolitiken gesetzlich regulieren: Markenfirmen müssen gesetzlich verpflichtet werden, Einkaufspraktiken zu etablieren, die es Zulieferern ermöglichen, Arbeitsstandards einzuhalten – inklusive automatischer Preisanpassungen bei Lohnerhöhungen oder neuen Arbeitsschutzgesetzen.
  • Verbindliche arbeiter*innengeführte Vereinbarungen fördern: Modemarken sollen dazu angehalten und verpflichtet werden, rechtsverbindliche Vereinbarungen mit Gewerkschaften und Arbeiter*innenorganisationen abzuschließen.

An zivilgesellschaftliche Organisationen richten wir folgende Appelle:

  • Forderungen von Arbeiter*innen in den Mittelpunkt stellen: Die Advocacyarbeit muss die Forderungen der Arbeiter*innen und Gewerkschaften aus dem Globalen Süden in den Mittelpunkt stellen und strukturellen Wandel vor markenorientierten Lösungen priorisieren.
  • Öffentlichen Druck auf Markenunternehmen und Politik ausüben: Konsument*innen, Aktivist*innen und Menschenrechtsorganisationen müssen zusammenarbeiten, um die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten öffentlich zu machen und verbindliche Verantwortung von Markenfirmen und Regierungen zu fordern.
  • Menschenrechtliche Sorgfaltspflichten verteidigen und stärken: Angesichts politischer Versuche, Lieferkettengesetze abzuschwächen, muss die Zivilgesellschaft diese Regelwerke verteidigen und weiterentwickeln, um sicherzustellen, dass sie echte Verbesserungen für Arbeiter*innen bringen, statt nur dem Reputationsschutz für Markenfirmen zu dienen.

Echte Transformation kann nur durch kollektives Handeln erreicht werden, das die strukturelle Ausbeutung in globalen Lieferketten sichtbar und politisch untragbar macht.

Auch wenn die AFWA sich lediglich auf die Bekleidungsindustrie bezieht, gelten viele der genannten Punkte ebenso für andere Bereiche, wie etwa dem Agrar- und Lebensmittelsektor. Die Forderungen haben entsprechend auch hier ihre Gültigkeit. Im Fairen Handel gehören faire Preise und Löhne sowie langfristige und partnerschaftliche Handelsbeziehungen zu den Kernprinzipien und wir unterstützen die Forderungen der AFWA. 

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